Thomas Hettche ist eine der prominentesten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Während des Seminars „Literatur ist Verschwendung“ sprach ich mit ihm über den Verlust der Vielfalt auf dem Buchmarkt, die neue Inszenierung von Literatur, und darüber, warum man nicht immer auf den Plot vertrauen sollte. Ein Plädoyer wider die Verengung des Literarischen.

Wie bist du Autor geworden und wie zum KiWi-Verlag gekommen?
Ich bin 1964 geboren, und habe mit 14 oder 15 angefangen zu schreiben, anfangs Liebesgedichte, die eher schlecht waren, dann zunehmend Prosatexte. Mit meiner ersten richtigen Kurzgeschichte habe ich dann einen hessischen Nachwuchspreis gewonnen, der Text kam in eine Anthologie, die bei Suhrkamp erschien, und Christian Döring, der damals dort für deutschsprachige Gegenwartsliteratur zuständig war, hat mich angerufen. Mein erster Roman erschien, als ich 23 war. Ich habe zwar mein Studium abgeschlossen, auch promoviert, aber eigentlich bin ich seitdem freier Schriftsteller. Von Suhrkamp ging ich dann, wie u.a. auch Thomas Kling und Marcel Beyer, mit Christian Döring zu Dumont, um dort ein literarisches Programm aufzubauen. Nach dem Scheitern dieses Experiments unter der Ägide Döring/Honnefelder hatte ich das Glück, in Helge Malchow wieder einen Verleger zu finden, wie ich ihn mir vorstelle und wie es auch Siegfried und Joachim Unseld für mich gewesen waren: Menschen, die für die Literatur brennen und für ihre Autoren.

Hat sich der Buchmarkt für dich spürbar verändert in deiner Zeit als Autor?
Oh ja, sehr. Als ich anfing, in den 80er Jahren, kam gerade die Forderung auf, man müsse welthaltiger, amerikanisch erzählen, das wurde von den Feuilletons massiv eingefordert. Ich galt am Anfang als experimenteller Autor und habe miterlebt, wie die Wahrnehmung für komplexe Erzählformen kippte und sich amerikanische Erzählmuster durchsetzten, aber auch die Fokussierung der literarischen Öffentlichkeit auf Stars und Bestsellerlisten. Die ökonomische Veränderung ist radikal: Gab es vor zwanzig Jahren noch eine große Gruppe von Autoren, die ihre Bücher zehn-, fünfzehn oder zwanzigtausend Mal verkauft hat und davon leben konnte, so hat sich das drastisch verschoben hin zu einer Konzentration auf wenige Titel. Und diese Konzentration verstärkt sich durch das Internet und die E-Books weiter. Es gab ja die Theorie, der elektronische Markt böte viel Platz für Nischen, aber was wir erleben ist viel eher, dass in dem unübersichtlichen Meer des Internets noch stärker jene Autoren und Titel wahrgenommen werden, die ihre eigene Marke sind.

Merkst du es auch persönlich, dass man als Autor stärker unter Druck gerät?
Die Freiräume verschwinden, die Offenheit für Vielfalt, das gilt für die Tische der Buchhandlungen ebenso wie für Publikationsmöglichkeiten in Zeitungen oder dem Rundfunk. Bei Lesungen ist das beispielhaft, die werden heute als Event vermittelt. Und die Event-Lesungs-Kultur funktioniert nur mit den Namen, die gerade im Gespräch sind. Das heißt, da bekommen eben die zehn Titel der Saison eine Plattform. Die Vielfalt der Buchhändler, die sagen: Ich habe da ein Steckenpferd und ich lade seit zehn Jahren zum Beispiel Peter Kurzeck ein, verschwindet leider. Früher traf man überall Buchhändler und Buchhändlerinnen, die seit zehn oder zwanzig Jahren Lesereihen machten, die durchaus einen eigenen Geschmack und dafür ihr Stammpublikum hatten. Das verschwindet.

Die Anforderungen an die Inszenierung von Literatur werden größer?
Ja. Vor zwanzig Jahren kamen die Menschen zu Lesungen, weil sie den Autor kennenlernen wollten. Sie wollten mit ihm reden und der sollte so lesen, wie er eben liest. Inzwischen kommen die Menschen mit einem ganz anderen Anspruch. Sie wollen eine professionelle Performance. Nun ist aber ein Schriftsteller vor allem ein professioneller Schreiber, aber nicht unbedingt Selbstdarsteller, was heißt, daß er eigentlich Sprecher und Schauspieler zu sein versuchen muß, also in viel stärkerem Maß als früher Vermarkter seiner eigenen Bücher. Das hat mit Authentizität dann nicht unbedingt etwas zu tun.

Bedauerst du das? Oder siehst du das eher pragmatisch und denkst: Okay, da weht jetzt eben einfach ein anderer Wind.
Na ja, sich jeden Tag zu bedauern, macht keinen Spaß. Ich finde es einfach schade, wenn Vielfalt verloren geht. Und mir scheinen all die Veränderungen, die wir gerade erleben, in dieselbe Richtung zu zielen. Der Deutsche Buchpreis zum Beispiel. Es heißt: Toll, das schafft eine größere Leserschaft für Literatur. De facto ist es aber doch so: Wer es mit einem neuen Buch auf die Long List und dann auf die Short List schafft, dessen Buch wird wahrgenommen, die Verkäufe jener neuen Bücher aber, die das nicht schaffen, ist mit dem Erscheinen der Short List gekappt. Das heißt, es bleiben fünf, sechs Autoren übrig aus einer Herbstsaison. Die Forcierung solcher Zuspitzung wird aber ebenso vom Buchhandel wie von den Medien betrieben - und wahrscheinlich entspricht sie auch dem Publikumsinteresse. Klar: Wahrscheinlich wird es immer  Nischen geben für kleine Special-Interest-Buchhandlungen und für Enthusiasten, die mit Selbstausbeutung ihr tolles Kleinverlagsprogramm auf die Beine stellen. Aber diese Kultur, dass wir in jeder kleinen Stadt eine Buchhandlung hatten, die ein breites Sortiment anbot, daß die Zeitungen und sogar das Fernsehen die literarische Vielfalt, die es de facto immer noch gibt, vermittelten, die verschwindet. Wir erleben jetzt eine radikale Veränderung des Marktes. Toll finde ich das nicht.

Gilt diese Ökonomisierung auch für das Erzählen selbst? Gibt es die Grenze zwischen E und U in Deutschland noch? Hier der Krimi und dort das Literarische, das An-der-Sprache-Arbeiten?
Wenn ich Seminare gebe, stelle ich immer wieder fest, wie sehr das Korsett einer sozusagen amerikanischen Erzähldramaturgie die Überlegungen gerade sehr junger Autoren bestimmt. Das hat sicher damit zu tun, dass wir alle über die Erzählmuster der Fernseh- und Kinoformate sozialisiert sind. Ich glaube aber, diese Narrative verstellen auch den Blick auf sich selber. Ein Plot kann wie eine Glasscheibe zwischen dem eigentlichen Schreibimpuls und dem stehen, was danach auf dem Papier steht, weil dieser Anspruch, es solle so und so sein, so groß ist. Man muß doch bei jedem Text schauen: Wo ist eine Tür in die wirkliche Schreiberfahrung? Schreiben heißt doch, den eigene Impuls bloßlegen, wo es für einen selber existentiell wird im Schreiben. Nur so kann etwas entstehen, was den Leser mitnimmt. Verschwendung ist wichtig.

Wo Verschwendung ist, muss ja immer auch eine Struktur sein, von dem das Verschwenderische abweicht. Nach welcher Art von Struktur arbeitest du? Nach Motiven? Räumen? Oder gibt es schon auch einen Plot, der darunter liegt?
Es gibt den eigentlichen, für mich existentiellen Schreibprozess, der findet jenseits des Plots statt. Da geht es für mich um Szenerien, um Orte, um sinnliche Wahrnehmung. Das ist völlig ergebnisoffen und ungesteuert. Etwas will dabei mit sich selbst identisch werden. Der zweite Schritt ist dann die Einordnung dieses Materials. Da kommt der Plot ins Spiel und durchaus auch Überlegungen derart: Wie kann man hier den Blick des Lesers steuern? Wie kann man ihn auf eine Fährte führen? Und was denkt er an jener Stelle im Augenblick des Lesens? Das ist so eine Art Ping-Pong-Spiel zwischen verschiedenen Erzählinstanzen. Meine Plots haben ja oft Genre-Strukturen, ich nehme Anleihen an Populärformen, wobei das, was ich in diesen Formen erzählen will, über sie hinausgeht. Das ist die Spannung, die mich eigentlich interessiert.

Birgt das nicht auch die Gefahr, sich zu verlieren, wenn man alles offen lässt?
Es gibt beim Schreiben den Moment, in dem man einen Satz formuliert, in dem man ganz bei dem ist, was man erzählen will. Und dann gibt es viele Momente, wo einem nichts einfällt und in diesem Momenten beginnt man, sich mit Strukturen zu beschäftigen. Aber in dieser Zeit ist man, glaube ich, vom Eigentlichen eher weit entfernt. Insofern haben Strukturen immer etwas Eitles. Und werden auch ganz schnell wieder zu einem Korsett, das eher behindert. Ich glaube, man muss es aushalten, dass man mit jedem Satz alles wieder umwerfen kann. Mein Roman „Woraus wir gemacht sind“ beginnt beispielsweise als Kriminalgeschichte: Ein Paar fährt nach New York, eines Morgens wacht der Mann auf und seine Frau ist entführt. Er beschließt, nicht zur Polizei zu gehen, sondern sie selber zu suchen. Thriller eben. Ich hatte eigentlich vor, dass er quer durch Amerika fährt und dabei Fährten einer ominösen Geschichte aufdeckt und so schließlich seine Frau rettet. Das war die Idee. Nun kam mein Held aber nach ein paar Dutzend Seiten in ein Kaff in Texas namens Marfa und wollte da nicht mehr weg. Der blieb da einfach, fast ein halbes Jahr, und statt den Fährten zu folgen, die ich ausgelegt hatte, tat er eigentlich gar nichts. Ich dachte: Das ist doch völliger Blödsinn, fällt dir denn nichts ein? Aber ich habe dann diesem Impuls nachgegeben, denn da gab es anscheinend eine Logik, die ich selber nicht ganz begriff, die aber auf eine unaussprechliche Weise richtig erschien. Für mich hatte es plötzlich eine große Stimmigkeit, dass dieser Mann sich verliert und wiederfindet, und dass die Frau fast aus seinem Gesichtsfeld verschwindet. Dieses Retardierende wurde mir natürlich von der Kritik um die Ohren gehauen.

Also beobachten wir heute das Diktat des Ökonomischen sowohl auf der literarischen, künstlerischen Ebene als auch auf der Markt-Ebene?
Ich glaube nicht mal, dass es vorrangig eine Ökonomisierung der Literatur selbst ist, die wir erleben, aber die Erzählmuster, die unsere Erwartungen an Literatur, ja unser Denken prägen, stammen längst nicht mehr aus dem literarischen Feld, sondern aus den visuellen Künsten, und da es einfach sehr viel teurer ist, einen Film zu machen, als ein Buch zu schreiben, ist der Konformitätsdruck im Film so enorm. An dessen Mustern geht den Lesern das Gefühl für eine Wahrnehmungsoffenheit verloren. Immer weniger haben Spaß daran, einen Text zu lesen, bei dem sie zwei Seiten lang nicht wissen, wo der hinführt. Und diese Veränderung der Wahrnehmung wird nun durch die zerstreute Perzeption im Internet verstärkt.


Thomas Hettche wurde in der Nähe von Gießen geboren. Er promovierte in Philosophie. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit war er auch als Journalist, vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung, tätig und übte verschiedene Gastdozenturen in seinem Fachgebiet, der Poetik, aus. In den Jahren 1995 bis 1999 war er Juror des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. 2001 veröffentlichte Hettche Roman „Der Fall Arbogast“. Zuletzt erschien „Die Liebe der Väter“ 2010 im Verlag Kiepenheuer & Witsch.
www.hettche.de

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