Die Autorin Harriet Köhler debütierte mit dem vielbeachteten Roman „Ostersonntag“. Zuletzt erschien ihr Roman „Und dann diese Stille“ (beide KiWi). Im Interview erzählt sie, warum sie ungewollt Autorin geworden ist, spricht über ihre Vorstellung von literarischer Wahrheit, die Notwendigkeit von Gefühlen in Prosa und das Geklüngel im deutschen Literaturbetrieb.

Wie bist du Autorin geworden, und wie bist du veröffentlichte Autorin geworden?
Ich hab mein erstes Gedicht mit acht geschrieben. Meine Mutter hält das natürlich im Nachhinein für den Beleg für meine frühe Begabung (lacht). Es handelte aber davon, dass ich Stewardess werden will. Ich arbeitete als Journalistin (damals bei MTV), aber das Schreiben lief die ganze Zeit nebenher. Ich hab das nur für mich gemacht, doch mein Chef hat, ohne dass ich das wusste, einige Erzählungen an eine Lektorin bei Kiepenheuer & Witsch geschickt. Während meiner Diplomarbeit bekam ich eine E-Mail von dieser Lektorin, die sagte, dass sie sehr beeindruckt wäre und ob ich nicht etwas Längeres hätte. Das hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch bis zu meinem nächsten Praktikum bei GQ hatte ich drei Monate Zeit, da dachte ich, diese drei Monate sind deine Chance. Wenn du jetzt nicht was hinkriegst, dann machst du es nicht mehr. Und dann hab ich mich hingesetzt, und jeden Tag drei Seiten geschrieben. Nach neunzig Tagen hatte ich ein Manuskript. Und das schickte ich sehr stolz, begleitet von einer unterwürfigen E-Mail, an Kiepenheuer & Witsch, und hörte erst mal ein halbes Jahr lang nichts. So ist das selbst bei angeforderten Manuskripten. Und dann kam die Antwort, und die luden mich sofort ein nach Köln, und ein paar Tage später war ich Autorin.

Ist der Ehrgeiz mit der Zeit gekommen oder bleibt es immer nur die innere Hinwendung zu sich und zum Text?
Es verändert sich schon. Ich habe ja meinen ersten Roman geschrieben, ohne auch nur einen Tag darüber nachgedacht zu haben, wie man eigentlich schreibt. Erst im Lektorat habe ich einige Regeln gelernt. Doch je mehr man weiß, um so strenger wird man mit sich beim Schreiben. Den zweiten Roman zu schreiben, war sehr viel schwerer, weil ich da schon viel mehr wusste.

Schreibst du geregelt oder ungeregelt, von neun bis zwölf oder intuitiv nach Lust und Laune?
Das ist schwierig, weil man Lesungen oder Termine hat. Ich bin nicht so diszipliniert, dass ich zwischendurch immer mal wieder an einem Text arbeite, sondern ich versuche, mir einen größeren Zeitraum freizuschaufeln. Darin halte mich an drei Seiten pro Tag, derer kann man sich dann sicher sein, auch wenn es am Ende gar nichts taugt.

Aber die müssen ja auch irgendwo herkommen, diese drei Seiten. Durchdenkst du das vorher dramaturgisch?
Ja, den großen Bogen muss ich mir vorher klar machen. Um diese Distanz wirklich durchzuhalten, muss man an sein Buch glauben, muss man daran glauben, dass das erzählt werden muss. Zur Organisation des Materials: Ich erarbeite mir ein Exposé, wo ich auf fünf oder sieben Seiten die Handlung bis zum Ende zusammenfasse. Kleinere Löcher stopfen sich, aber zu groß dürfen sie nicht sein. Und wenn ich dann schreibe, überarbeite ich zuerst das, was ich am Vortag geschrieben habe, und dann schreibe ich weiter.

Um das große Wort „Wahrheit“ zu bemühen: Was darf und soll in einem Text wahr sein, auch im Hinblick auf die Gefahr, zu autobiografisch zu schreiben? Welche Konstruktionsprinzipien literarischer Wahrheit legst du zugrunde?
Autobiografisch ist ein Text ja immer. Man kann nicht über etwas schreiben, was nicht in einem drin ist. Das Wort Wahrheit umfasst wahnsinnig viele Ebenen. Ich versuche, Texte zu schreiben, die eine Wahrheit vermitteln, und zwar auch für andere Leute als nur für mich. Ohne diesen Bezug zur wirklichen Welt hätte das Schreiben überhaupt keinen Sinn. Ich wüsste nicht, warum ich eine Geschichte erzählen sollte, die gar nichts weiter erzählt als diese Geschichte, sondern ich möchte etwas über die Welt erzählen. Der nächste Wahrheitsbegriff ist natürlich der textimmanente; wenn wir einen Text schreiben, dann schaffen wir eine Welt, und diese Welt hat ihre eigenen Regeln und ihre eigene Wahrheit, aber innerhalb dieses Textes müssen Dinge wahr bleiben. Und natürlich der wichtigste Punkt in Texten ist, finde ich, dass die Figuren wahr sind. Nicht nur im Sinne von authentisch, sondern sie müssen so glaubwürdig sein, dass der Leser durch diese Figuren hindurch diese Welt erspüren kann.

Gibt es für dich Kriterien zur Erschaffung solcher Figuren?
Es gibt natürlich die alten Creative-Writing-Regeln, eine Figur muss dreidimensional sein, eine Figur muss Tiefe haben, eine Figur muss Wünsche und Sehnsüchte haben, und sie muss in einem Konflikt stecken. Wichtig ist, glaube ich, das Konfliktpotenzial einer Figur. Wir versuchen ja nicht nur, Geschichten zu erzählen, wir versuchen ja, jemanden anders zu berühren. Und das geht nur dann, wenn wir merken, dass das, was wir schreiben uns selbst berührt.

Kann man sagen, das Klischee ist eine literarische Lüge?
Das Klischee ist eine schwierige Sache. Wir lesen oft Klischees, eine abgenutzte Wahrheit, die muss aber für jemanden anders gar nicht abgenutzt sein. Ich habe zum Beispiel immer Schwierigkeiten damit, nicht ins Klischee zu fallen, weil ich über typische Menschen schreibe. Ich interessiere mich nicht für Utopien, nicht für Helden, ungewöhnliche Spinner oder Außenseiter. Ich interessiere mich für den ganz normalen Menschen, und in dem Augenblick, wo man versucht, Figuren relativ durchschnittlich zu entwerfen, kommt man immer schnell an das Klischee. Es ist schwierig, und man kann sich da wirklich nur von Satz zu Satz weiterhangeln.

Sollte man das Klischee bewusst konterkarieren, um den Text lebendiger, origineller, frischer zu machen?
Das kann auch wieder verkrampft wirken. Manchmal liest man Texte und merkt sofort, da hat jemand versucht, das Gegenteil von dem zu machen, was man denken würde. Das ist auch öd.

Weil es so ein Übermaß an Klischees gibt und mittlerweile alles schon erzählt wurde, gibt es, so mein Gefühl, einen Trend zur Reduktion. Dass man alles aus dem Text rausnimmt, was irgendwie verdächtig sein könnte. Die Frage ist, was dann übrig bleibt.
Da kommen dann am Ende Bücher raus, die, wie die Rezensenten immer schreiben, eine geschliffene klare Sprache haben, und schnörkellos sind. Ich sag gar nicht, dass das nur schlechte Bücher sind. Ein solches Schreiben wird oft an den Studiengängen in Hildesheim und Leipzig gelehrt.

Wenn zu viele Klischees drin sind, wird es zu platt, nimmt man alles raus, läuft man Gefahr, dass es ein klinischer, glatter Text wird.
Aber ist das nicht der kreative Prozess? Das ist doch das, was man letztlich als schöpferisch bezeichnet. Schaut man sich den letzten Band von Thomas Bernhards autobiografischen Schriften nach handwerklichen Kriterien an, ist alles drin, was das DLL und der liebe Gott verboten hat. Aber wenn man dieses Bedürfnis zu schreiben und dieses unglaubliche literarische Genie ansieht, kann man das nicht reduzieren. Wenn ein Text gut ist, dann verzeiht man ihm alles, dann ist plötzlich alles möglich, und darum ist es Unsinn, immer nur die handwerklichen Kriterien anzulegen.

Das merkt man auch, wenn man einen Klassiker liest, Tucholsky zum Beispiel, das geht bisweilen unter modernen handwerklichen Aspekten überhaupt nicht, aber es ist trotzdem so zauberhaft und bezaubernd.
Proust würde vermutlich heute keinen Lektor mehr passieren. Es hat sich etwas Konventionelles herausgebildet, was die Leute sehr einschränkt. Man darf sich nicht im Kopf ständig damit beschäftigen, ob es eine Überfülle an Adjektiven gibt. Man sollte beim Schreiben nicht immer nur das Handwerk im Kopf haben, sondern zunächst seiner Stimme folgen. Wenn ich versuche, jeden Kitsch und jedes Gefühl zu vermeiden, dann schreibe ich einen toten Text. Also so ein bisschen Mut zum Kitsch darf man meiner Meinung nach haben. Was einen wirklich berührt, ist ja immer irgendwie kitschig.

Und trotzdem gibt es Kriterien oder besser das Gefühl, dass der eine Text gelungen und der andere ein schlechter Text ist. Bei dem einen verzeihe ich den Kitsch und die Adjektive, bei dem anderen nicht. Und das ist letztlich auch nicht begründbar, oder?
In dem Augenblick wäre es ja dann reproduzierbar. Also, was am Ende dann die Kunst ist, darüber können wir nicht sprechen, das ist das, was man nicht fassen kann, und das ist der Grund, warum es nicht reproduzierbar ist.

Der deutsche Literaturbetrieb ist ja sehr überschaubar. Du etwa bist mit einem Lektor verheiratet. Herrscht in diesem Betrieb so ein bisschen ein Klüngel, in dem man sich gegenseitig nicht weh tut?
Also nach außen nicht, hinten herum schon. Es wird natürlich in so einem Betrieb wahnsinnig viel geredet. Wie oft ich schon schwanger war, nur weil ich eine komische Bluse anhatte (lacht). Aber man muss auch sagen, dass das eigentlich ein netter Betrieb ist, in dem auch ganz schön viele interessante Menschen rumhängen, also besser als in der Werbebranche oder im Kunstbetrieb, wo es nur noch um Geld geht. Ich versuche, eine gute Mischung zu finden. Jeder deutsche Autor sagt, er hält sich raus aus dem Betrieb, und am Ende stehen sie doch alle auf allen Partys. (lacht)


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Harriet Köhler, geboren 1977, hat Kunstgeschichte studiert und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

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