Autor und Literaturmarkt, Kunst oder Genre – ein ewiges Thema. Wie stark muss sich der Autor anpassen?
Ich habe mal einen Stipendiaten kennengelernt, der eine Auftragsarbeit für einen großen Publikumsverlag schrieb. Die Lektorin sagte zu ihm: Toll, aber Sie wissen ja, achtzig Prozent unserer Leser sind Frauen, das heißt, Sie müssen noch eine Frauenfigur in den Roman hineinschreiben. So könnte ich nie arbeiten. Das bedeutet eine Grundsatzentscheidung am Anfang: Was möchte ich? Entweder einen Genretext schreiben und mich dann aber auch den Regeln des Genres (und des Marktes!) zu unterwerfen. Oder aber es entsteht etwas ganz Eigenes. Etwas, das einem unter den Nägeln brennt und einfach raus muss. Ob das dann gelungen ist oder nicht, ist eine andere Frage, aber bei einem literarischen Text, der zwingend ist, könnte man nie wie am Schachbrett sagen: Da muss man noch eine Frauenfigur reinschreiben aus marktstrategischen Gründen.

Wie fängst du an zu schreiben? Hast du erst eine Figur im Kopf und dann entwickelst du die Sprache zu dieser Figur? Oder hast du einen eigenen Tonfall, der sich über alles legt?
Ich versuche immer, im Tonfall dem Stoff zu folgen. Bei „Lehrerzimmer“ war das Thema Schule, da lag die Form der Satire, Groteske, Farce auf der Hand. Hier hat sich der Stoff die Form der Übertreibung gesucht – das Komische. Bei „Corpus“ gibt es eine Priesterfigur, die stark im Mittelpunkt steht, und da hat sich gezeigt, dass es eine Möglichkeit ist, den Stoff anzuordnen wie die Abfolge einer katholischen Messfeier, mit unterschiedlichen Stilen und Tönen. Es ist selten, dass ich eine Figur habe und dann erst die Perspektive suche. Bei meinem bisher letzten Projekt (erscheint erst 2014) war das allerdings genauso: Da hatte ich zu Beginn nur einen Namen, eine Bezeichnung, und die Geschichte entstand aus diesem Namen heraus. Da habe ich zwei Wochen gebraucht, nur um eine Perspektive zu finden (in diesem Fall sogar zwei getrennte Perspektiven), um den Stoff in den Griff zu bekommen.

Mit einem guten Stoff ergibt sich der Ton automatisch?
Man muss trotzdem viel probieren. Es ist oft so, dass Anfangssätze rausfallen, dass sich ein ganzer Duktus doch noch verändert, man muss immer experimentieren. Und offen sein für alle Möglichkeiten und Richtungen. Wenn man dann aber eine Stimme im Kopf hört, die passt, ist man glücklich. Dann geht es sehr leicht. Dann nimmt einen die Stimme, der Ton, an die Hand.

Fällt in der Überarbeitung viel Text weg?
Ja, sehr viel, ich schreibe manchmal doppelt so viel wie dann veröffentlicht wird. Der letzte Roman „Die Tarnkappe“ hatte vierhundert Seiten, und ich habe hundertachtzig gekürzt. Aber das hat dem Ganzen wirklich gut getan. Weil ich sehr viel, sehr assoziativ, sehr rauschhaft schreibe, neige ich dazu, vieles mehrfach zu erzählen, nur in anderen Worten. So entsteht viel Überflüssiges. Aber das ist wichtig und das bringt das assoziative Schreiben fast zwangsläufig mit sich. Man schleppt dann im Ur-Text oft sehr viel Ballast mit und denkt auch noch am Anfang, das ist alles toll. Bei näherem Hinsehen erweist sich aber einiges als nicht tragfähig. Man sollte wirklich lernen, seinen Text radikal ehrlich zu lesen und sich auch trauen zu sagen: Ich langweile mich jetzt gerade. Und alles Langweilige fliegt immer raus. Auch Beschreibungen, die um ihrer selbst willen oder um der „Schönheit“ willen entstehen. Weg damit. Ein unnötiges Schwelgen ist immer mühsam zu lesen. Auch fliegen die Stellen meist raus, an denen ich beim Schreiben nach einem möglichst „tollen“, originellen Bild gesucht habe. Dort merkt man das Öfteren das Bemühen des Autors. Als Leser sollte man immer das Gefühl haben, dass es dem Autor leicht gefallen ist, dass hier nicht jemand krampfhaft nach etwas gesucht hat.

Entscheidest du das eigenständig oder lässt du andere lesen?
Der erste Impuls ist, das selber herauszufinden. Man ist vielleicht vier oder fünf Mal begeistert von dem, was man geschrieben hat, und beim sechsten Mal angeödet. Da helfen Analysemittel und literaturwissenschaftliches Handwerkszeug. Warum ist diese Stelle hier jetzt so langweilig? Weil hier überhaupt nichts szenisch erzählt wird und der raffende Bericht protokollartig wirkt. Oder weil dort zu viel szenisch erzählt wird und die Handlung wie ein Hamsterrad erscheint und irgendwann leer läuft. Dann liest als nächstes meine Frau den Text, und die ist sehr radikal. Sie hat alle meine Texte lektoriert, und sie findet immer noch unglaublich viel Kürzungswürdiges. Dann liest es der eine oder andere Freund und Autorenkollege, der noch mal auf sprachliche Ungenauigkeiten achtet. Und ganz am Ende meine Lektorinnen, früher Dagmar Fretter, jetzt Sabine Baumann, und beide haben auch noch mal einen sehr guten Blick auf den Text. Es passiert wie gesagt beim rauschhaften Schreiben oft, dass man zehn Mal dasselbe schreibt mit anderen Worten. Um von einem Gedanken auf den nächsten zu kommen, oder von einer Situation in die nächste. Da braucht man beim Schnellschreiben oft diese Übergangsphase, wenn man noch nicht bereit ist im Kopf für das Neue. Fünf dieser Wiederholungen schmeiße ich selber raus, zwei meine Frau, bleiben immer noch drei übrig für die Lektorin. Wenn das insistierende Wiederholen eine Funktion hat, muss es natürlich stehen bleiben, hat es aber keine und ist es nur dem Luftholen vor dem Sprung ins nächste Wasser geschuldet, dann muss es weg; nur das stärkste Bild bleibt, nur die stärkste Formulierung, nur die brennendsten Worte. Aber für mich ist es trotzdem gut, so wild zu schreiben, denn das macht ungeheuer Spaß, ergibt oft ein flow-Erlebnis und ein Glücksgefühl. Und das ist auch einer der Gründe, warum ich überhaupt schreibe: dieses Gefühl, dass ich am Schreibtisch mitgerissen werde von etwas, das nicht ich selbst zu sein scheine.

Was steht fest, wenn du ans Schreiben gehst, also wie strukturiert ist der Text? Es gibt ja Autoren, die haben einen genauen Szenenplan und alles steht ganz genau fest.
Mir ist es wichtig, dass ich sehr schnell eine Vorstellung davon habe, wo die ganze Kiste hingeht. Also: Wo endet die Geschichte, wie ist das Schlussbild, vielleicht sogar der Schlusssatz, wie löst sich das Ganze auf? Wenn ich das nicht weiß, tue ich mich schwer. Auch da gibt es Kollegen, die lieber ins Blaue hinein schreiben und sich überraschen lassen. Das Überraschenlassen finde ich auch sehr wichtig, aber ich habe lieber eine grobe Struktur, von der aus ich mich dann ruhig immer wieder entfernen und mich so trotzdem überraschen lassen kann. Aber es ist keine völlige Verlorenheit in einer Geschichte, die ich gar nicht kenne. Viele „Ins-Blaue“-Autoren haben sehr viele Anfänge in ihren Computern. Aber an irgendeinem Punkt verliert jede Geschichte ihre Unschuld. Und wenn man da nicht weiß, wo man eigentlich hinwollte, was der innere Anziehungspunkt war und ist, stellt sich das Gefühl der Verlorenheit ein, und man kommt nicht weiter.

Wie eng sollte sich der Autor mit seinen Figuren identifizieren, sich auf diese Figur einlassen? Wie viel Distanz ist sinnvoll?
Ein Schriftsteller kann sehr leicht und sehr schnell und sehr gut über sich selbst schreiben und über die vielen Facetten seiner selbst, über die Abgründe, und aus diesen Facetten entstehen die Figuren. Aber eine Welt zu erschaffen von acht, neun „wirklichen“ Menschen aus Fleisch und Blut innerhalb eines Romans, die alle anders denken, ticken, reden, das macht den Unterschied zwischen einem Autor und einem großen Autor aus. Phillip Roth ließ in seinem Roman „Amerikanisches Idyll“ den Erzähler sagen: "Denn das tat ich in den folgenden Monaten täglich, sechs, acht, manchmal zehn Stunden hintereinander, über den Schweden nachdenken (die Hauptfigur des Romans). Ich tauschte meine Einsamkeit gegen seine, lebte in dem von mir so verschiedenen Menschen, verschwand in ihm, versuchte mir Tag und Nacht ein Bild von diesem Mann zu machen, der scheinbar so oberflächlich war. Er wurde zur wichtigsten Gestalt meines Lebens." Ich glaube, Dostojewski, Thomas Mann, all die großen Autoren, haben eine Möglichkeit gefunden, in andere Menschen zu schlüpfen, und in diesem Moment des Schreibens wirklich dieser andere zu werden. Also tatsächlich ganz nah an diesem anderen Menschen zu sein, der so wenig wie möglich mit einem selbst zu tun hat.

Ist das nicht auch eine Gefahr für dich persönlich als Autor?
Nein, nein, die Gefahr ist, zu sehr an sich selbst zu kleben. Wichtig ist, diese anderen Menschen sehr genau zu durchschauen, fast wie eine meditative Übung, sich in diesen Kopf, in diese Person zu versenken, sich  Sprachmuster des Einzelnen zu überlegen, innere Bilder, die Biografie genau zu kennen, Schmerzen, Verluste … Aber das Schwierige ist: Selbst wenn man die Figur auf dem Reißbrett perfekt gezeichnet hat, rutscht man im Prozess des Schreibens immer wieder in sich selber hinein, in sein eigenes Denken, und das zu vermeiden, ist sehr schwierig.

Du hast acht Bücher im Schöffling Verlag publiziert. Wie bist du selbst an den Schöffling Verlag gekommen vor gut zehn Jahren?
Ich hatte mich beim Literarischen Colloquium Berlin (LCB) für ein Stipendium beworben, es aber nicht bekommen. Aber der Chef Uli Janetzki fand die Texte toll und hat sie weitergegeben an Klaus Schöffling, und der hat mir dann einen Brief geschrieben, dass wir da einen Band mit Erzählungen draus machen. Da war ich ganz überrascht, ein großes Glück. Diese Texte an Verlage zu schicken, das sollte man auf keinen Fall machen, sondern eben durch Vorarbeiten wie Stipendien, Wettbewerbe oder Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften Netzwerke bilden. Die Verlage sieben in den Institutionen, wo schon vorab gefiltert wurde (LCB, Klagenfurt etc.), und sie hören manchmal auch auf Empfehlungen ihrer Autoren.

Hat sich der Literaturmarkt im Lauf der Zeit geändert?
Das ist schwer zu beantworten, weil es ja für mich von Buch zu Buch einfacher wird. Weil doch immer mehr Leute auf einen aufmerksam werden. Aber was heißt einfacher? Die Arbeit an den Texten wird nicht einfacher. Man kann zwar früher erkennen, wo die Holzwege sind, das schon. Aber man muss trotzdem immer wieder neu aus dem Wust des Ursprungs-Textes den endgültigen Text herausmeißeln. Der Markt hat sich insofern geändert, als dass eine Konzentration auf wenige Titel, die sich gut verkaufen, noch stärker geworden ist. Für eine große Buchhandlung ist es wesentlich lukrativer, 100 Titel vom selben Buch zu verkaufen, als 100 Bücher von 100 verschiedenen Autoren. Denn pro Partie (10 Bücher desselben Buchs) bekommen sie eines umsonst. Bei 100 verkauften Büchern eines einzigen Autors bekommen die Buchhandlungen also (mindestens) zehn Bücher „geschenkt“, bei 100 Büchern von 100 verschiedenen Autoren dagegen kein einziges.

Gibt es aktuelle Themen, die dich beim Schreiben umtreiben?
Bisher habe ich sehr stark aus dem Existentiellen geschöpft, aus mir selbst, aus Begegnungen mit anderen, aus existenziellen Gesprächen über das Eigene, aus der Existenzphilosophie, aus Gedanken und Empfindungen über Einsamkeit, Angst, Tod, Langeweile und so weiter. Ich glaube, dass für mich hier aber eine Grenze erreicht ist. Das Existenzielle werde ich niemals aus meinen Texten tilgen wollen, aber es muss jetzt noch mehr dazukommen. Woran ich im Augenblick arbeite, ist in der Tat etwas, in dem gesellschaftliche, politische, manchmal auch naturwissenschaftliche Fragen eine Rolle spielen. Das Kreisen um sich selbst und um die Existenz kann nie zu einem Abschluss gebracht werden, könnte aber vielleicht irgendwann nicht mehr so stark im Mittelpunkt stehen. Es liegt sicher auch an meinen beiden Kindern, dass ich jetzt immer mehr den Fokus öffne und sage: In welcher Welt leben wir hier eigentlich? Wie kann ich als Einzelner an dieser Welt „teilnehmen“, sie vielleicht sogar zu einer besseren Welt machen? Oder aber als Autor mich den brisanten Fragen stellen, die den Einzelnen überfordern. Oder zu ganz neuen Fragen kommen. Oder auf Missstände hinweisen, ohne den pädagogischen oder gar moralischen Zeigefinger zu heben.

Ist das denn immer noch dein Traumberuf, Autor zu sein?
Ja, natürlich, ich bin sehr glücklich. Aber gern wäre ich auch Filmkomponist geworden. Realistischerweise hätte ich das nicht geschafft. Da reichte wahrscheinlich das Talent nicht aus, wer weiß. Aber gut, wenn ich mal ein geniales Drehbuch schreibe, bei dem die Produzenten Schlange stehen, dann werde ich sagen: Ihr kriegt das Ding nur, wenn ich auch die Filmmusik dazu machen darf.


Markus Orths, geboren 1969 in Viersen, studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik. Seit zehn Jahren lebt er als Autor in Karlsruhe. Seine Erzählungen und Romane wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem gewann er im Jahr 2000 den open mike der Literaturwerkstatt Berlin. Neben zahlreichen Stipendien (z.B. dem Aufenthaltsstipendium im Literarischen Colloquium Berlin, dem Heinrich-Heine-Stipendium, dem Literaturstipendium des Landes Baden-Württemberg) erhielt er u.a. den Telekom Austria Preis (Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt 2008), den Förderpreis des Landes NRW und des Marburger Literaturpreises, den Moerser Literaturpreis, den Limburg-Preis, den Sir-Walter-Scott-Preis sowie den Niederrheinischen Literaturpreis. Für seinen Roman DIE TARNKAPPE wurde er zuletzt mit dem Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet (2011).
www.schoeffling.de


 

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