Erzählen im Zeitalter des Internets

Prof. Dr. Christina Schachtner war zunächst Kindergärtnerin, dann Kriminalbeamtin. In München studierte sie Soziologie und Psychologie, habilitierte über die Mensch-Maschine-Beziehung und ist nach diversen Gastprofessuren u.a. in Berkeley, Sydney, Brasilien, London und Shanghai seit 2003/2004 Professorin für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Digitale Medien. Zuletzt erschien ihr Buch „Das narrative Subjekt. Erzählen im Zeitalter des Internets“ im transcript Verlag.
 
Sie haben sich mit den Themen und Formen des Erzählens von Netzakteur(inn)en und Blogger(inne)n beschäftigt. Was haben Sie herausgefunden?
Das Erzählen gehört, wie von Ludwig Wittgenstein festgestellt, auch für die jeweils junge Generation zu den Grundlagen des Lebens, vergleichbar der Bedeutung des Essens, Trinkens, Gehens, Spielens (Wittgenstein 1960). Erzählend versuchen sich die Akteure und Akteurinnen im Netz die Welt zu erklären und sich in diese Welt hineinzubauen. Doch man darf sich das Erzählen der Netzgeneration nicht so vorstellen, dass zusammenhängende Geschichten mit einem klaren Anfang und Ende erzählt werden. In den Interviews, die wir führten, finden sich eher beiläufig mitgeteilte narrative Puzzlestücke. Sie ergeben häufig erst in der Zusammensetzung eine Geschichte. Wir haben in den Interviews mit Netzakteur(inn)en im Alter zwischen 12 und 32 Jahren, die teils in Europa, teils im arabischen Raum, teils in den USA lebten, verschiedene Typen von Geschichten entnehmen können. Einen hohen Stellenwert haben zum Beispiel Selbstinszenierungsgeschichten, in denen das eigene Ich und seine Inszenierungsstrategien den Fokus bilden. Diese Geschichten drehen sich vorrangig um Fragen der eigenen Sichtbarmachung in den digitalen Arenen. Kontrastierend dazu stellen die Vernetzungsgeschichten auf die Beziehungen zu anderen ab. Das Teilen von Erfahrungen, Bildern, Meinungen spielt darin eine wichtige Rolle. Mal ist der Wunsch nach Vernetzung auf Familie und Freunde beschränkt, mal sind es Menschen in anderen Ländern, mit denen man in Kontakt kommen möchte.
 
Was sind die Besonderheiten des Erzählens im Zeitalter des Internets?
Im Unterschied zur Geschichte in einer Buchpublikation, sind die Geschichten der Netzgeneration bewegliche Gebilde. Sie werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich erzählt. In Abhängigkeit von der Lebenssituation der Erzähler(innen) und medientechnischen Möglichkeiten bekommen die Geschichten unterschiedliche Akzente, unterschiedliche Ausdrucksformen, und niemals gibt es ein Ende. Es sind Geschichten mit offenen Rändern, verknüpfbar mit den Geschichten anderer. Das Bild schiebt sich neben Wort und Sound als Erzählmedium immer mehr in den Vordergrund. Das Bild abstrahiert nicht wie das Wort; es spricht unmittelbar die Sinne und Gefühle an.
 
Müssen wir also mit dem „Sieg“ erzählender, digitaler Bilder über das Wort rechnen?
Wahrscheinlicher scheint mir die Entstehung von neuartigen narrativen Text-Bild-Konstruktionen, ohne Hierarchien zwischen verschiedenen medialen Ausdrucksformen. In einer mediatisierten Gesellschaft werden wir von klein auf mit verschiedensten Medien konfrontiert. Kein Wunder also, wenn das Erzählen der Netzgeneration in Inhalt und Form von Erfahrungen aus anderen Medien durchdrungen ist. So berichtete z.B. ein 23-jähriger Blogger, dass sein Schreibstil beim Bloggen ein „Mix aus Comedy und Drama“ und von der Fernsehserie „Gossip Girl“ inspiriert sei.
Schließlich hat das Erzählen eine wichtige Funktion als Mittel zur Herstellung von Kohärenz. Ein „Leben im Plural“ (Welsch 1992), wie wir es gegenwärtig fast alle führen, enthält das Risiko der Fragmentierung menschlichen Daseins. Durch das Erzählen führen die digitalen Erzähler(innen) ihre kontrastierenden Lebenserfahrungen zusammen, etwa wie diese 24-jährige Amerikanerin, die seit einigen Jahren durch Europa reist und diese Reise von Ort zu Ort als Bildgeschichte im Netz präsentiert. Sie fotografiert alles, was ihr auffällt, vor allem die Speisen, die sie an verschiedenen Orten zu sich nimmt. Sie selbst sagt: „I take pictures of my food that I eat in different countries. It’s an easier way to put things together“. So entsteht eine Geschichte des Essens, die ihr das Gefühl gibt, ein zusammenhängendes Leben zu führen.
 
Gibt es bei diesem Erzählen nationale Unterschiede oder entsteht durch das Netz eine neue Art „Einheitserzählung“?
Was und wie wir erzählen ist nicht unabhängig davon, wo und wann wir leben. Themen wie Individualisierung, Enttraditionalisierung, Pluralisierung oder Transnationalisierung werden von Menschen in verschiedenen Teilen der Welt als Herausforderungen erlebt, mit denen sie sich in ihren Erzählungen auseinandersetzen. Insofern konnten wir über nationale und kulturelle Grenzen hinweg Typen von Geschichten identifizieren. Die Geschichten eines Typus haben einen gemeinsamen Fokus z.B. Grenzmanagement, aber die Auseinandersetzung mit diesem Fokus fällt unterschiedlich aus. Die Erzähler(innen) agieren aus ihren jeweils unterschiedlichen biografischen und kulturellen Kontexten heraus, was zu unterschiedlichen narrativen Ergebnissen führt. Während z.B. westliche Erzähler(innen) Enttraditionalisierung in ihren Geschichten als einen Trend thematisieren, der zur Erosion von Werten führt, was sie verunsichert und irritiert, hinterfragen Erzähler(innen) aus dem Mittleren Osten die tradierten Werte in ihren Kulturen kritisch, weil sie sie als beengend erleben. Verbundenheit wird in den westlichen Vernetzungsgeschichten als Verbundenheit mit Familie und Freunden thematisiert, die aufrechterhalten oder neu hergestellt werden soll. Die interviewten arabischen Netzakteur(innen) dagegen erzählen von ihrem Streben nach Verbundenheit mit Menschen anderer Länder und Kulturen, weil sie sich davon abgeschnitten erfahren. Das heißt nicht, dass ihnen ihre familiären Netzwerke nichts bedeuten, aber sie sind ihnen sicher, während in den westlichen Industrieländern die familialen Bande brüchig geworden sind. Die Erzählungen sind jeweils davon geprägt, was nicht gelöst, was offen ist, was als bedrohlich oder ambivalent erfahren wird. Und das stellt sich in unterschiedlichen geografischen und kulturellen Kontexten unterschiedlich dar.
 
Die Antworten basieren auf dem Buch „Das narrative Subjekt. Erzählen im Zeitalter des Internets“ (2016) von Christina Schachtner, ersch. im Transcript Verlag.

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