Er trägt eine gelbe Lederjacke und hat ein braungebranntes Gesicht – frisch zurück aus Palma de Mallorca, wo er mit seiner Familie fünf Tage verbracht hat. Er packt einen Mini-Laptop aus, auf dem er in jeder Pause an seiner neuen Geschichte schreibt: Russendisko-DJ und Erfolgsautor Wladimir Kaminer. Neben der Persönlichkeit des Autors prägten den Kurs „Humor in der Literatur“ bestes Osterwetter, Sonne, viel Lachen, Textarbeit und Kaminers Geschichten. Wladimir Kaminer ist durch und durch ein Geschichtenerzähler. Sein Leben scheint nur in Anekdoten stattgefunden zu haben – oder ist er "nur" ein Meister der Pointierung? Auch seine Kommentare zu den Texten der Teilnehmer gibt er meist in Form von Gleichnissen oder Anekdoten, hinter denen sich oftmals erst auf den zweiten Blick der präzise, überraschende Rat verbirgt. Wenn Kaminer erzählt, schwingt die Stimmung immer zwischen Tragik und Komik – sein großes Thema.

Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste am Schreiben?
Ich bin fest davon überzeugt, dass es, für einen der schreiben will, das wichtigste ist, sein Thema zu finden und einen Zugang zu diesem Thema. Wenn man die Wege zu dem eigenen Thema definieren kann, ist alles andere viel einfacher. Dann geht es nicht mehr um gut oder schlecht, um die eine oder andere Szene, dann ist man als Autor jenseits von Gut und Böse, weil man für sich selbst glaubwürdig und aufrichtig ist. Der Weg zu diesem Thema liegt in der Vergangenheit, die Vergangenheit ist – darf man das sagen? – ist die einzig wahre Realität.

Also ist Schreiben immer autobiografisch?
Alle Geschichten, egal ob ein Krimi oder ein satirisch gefärbtes Märchen, sind in den Biografien der Autoren verankert. Hundertprozentig. Vielleicht indirekt, vielleicht um fünf Ecken herum, aber sie haben dort ihre Quelle. Je mehr man über die Vergangenheit weiß, umso besser kommt man mit der Gegenwart klar und umso weniger Angst muss man vor der Zukunft haben. Man kann sein Leben auch auf Grundlage einer Fernsehserie aufbauen, warum nicht. Es wird einen nicht umbringen, aber es wird einem große Schwierigkeiten im Umgang mit der Realität bereiten. Fernsehserien geben einem nicht das, was man zum Leben braucht, aus ihnen entsteht nichts. Und aus dem Nichts entsteht die Angst. Angst ist ein schlechter Ratgeber, man macht entweder gar nichts oder irgendwas falsch. Das Fernsehen schiebt fremde Biografien vor die eigene.

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Buchveröffentlichung gekommen?
Ich habe in Berliner Kneipen Vorträge gehalten und gelesen, über Kosmonauten oder über russische Literatur. Meine Biografie spielt zu einem großen Teil in der Sowjetunion, diesem Experiment, das als gescheitert gilt, und in der Sowjetunion waren Berufe wie Kasten, geschlossene Welten. Kosmonauten lebten mit ihren Familien in Städten, wo nur Kosmonauten lebten, bei Schriftstellern sah es ähnlich aus. Total geschlossene Welten. Alle anderen, egal wie talentiert sie waren, waren keine Schriftsteller, wenn sie nicht in der richtigen Siedlung ihr Häuschen hatten. Diese Themen haben mich damals sehr beeindruckt. Und der Umzug nach Berlin 1990. Darüber habe ich dann, etwas später, 1997/98, Geschichten geschrieben und in Kneipen und Cafés vorgelesen. Damals war in Berlin jedes Café zugleich ein Veranstaltungsort. Es kamen anfangs nur sehr wenig Leute, zehn, zwanzig vielleicht. Die fanden das allerdings sehr lustig.

Hat Sie das gewundert?
Das die das lustig fanden? Ja, weil ich das ernst gemeint habe. Damals verstand ich die Zweideutigkeit der Tragödie. Im Grunde ist eine Tragödie eine gescheiterte Komödie, eine Komödie, die nicht lustig ist. Und eine Komödie ist eine gelungene Tragödie, weil das der richtige Umgang mit der Tragik ist. Wenn man nur weint, landet man in einer Sackgasse und kann sich gleich erschießen. Die Komödie ist ein Mittel, konstruktiv mit Traurigkeit umzugehen, mit der Tragödie des Lebens.

Wie ging es weiter?
Später habe ich auf Vorlesebühnen gelesen, das war etwas härter und eher politisch. Eine gute Schule als Vorleser. Auf einer solchen Veranstaltung sprach mich eine Literaturagentin an und bot mir an, die Geschichten, die zu diesem Zeitpunkt fertig waren, Verlagen zu zeigen. Alle Verlage wollten dieses Buch haben, denn für die Verlage war das frisch. Bekommen hat es mein „Konzernverlag“, bei dem ich noch immer bin, weil er am meisten Geld geboten hat. Ungefähr 80.000 Mark. Das war für mich eine unglaubliche Summe. Ich hatte zu dieser Zeit einen Job in einer Theaterwerkstatt, wo ich ungefähr eins-fünf verdiente. Auch nicht schlecht, aber dieser Job machte mich krank. Ich musste im Büro sitzen und lange Telefonate mit dem Arbeitsamt führen. Anfang der 90er gab es sehr viele ABM-Stellen in Berlin. Jedes Theater und jedes Projekt bekam sofort 20 ABM-Stellen. Und auch unsere Werkstatt hatte einen Pool von bestimmt 100 ABM-Stellen. Und da saß ich im Büro und musste Telefondienst halten. Als ich den Vorschuss von Bertelsmann bekam, habe ich sofort gekündigt – eine große Geste. Der Vorschuss entsprach ungefähr vier Jahresgehältern. So lange, dachte ich, wird diese Werkstatt sowieso nicht existieren.

Also stand bei Ihnen am Anfang das Lesen und erst dann folgte der gedruckte Text?
Für mich war das Buch damals nicht wichtig und ist es heute auch nicht. Die Papierliteratur ist eine sekundäre Erscheinung. Diese großen Auflagen kann man nicht fassen. Insofern ist das nicht so interessant für mich wie weiter als reisender Geschichtenerzähler durch die Städte und durch die Länder zu fahren und direkt mit den Menschen zu reden, ihnen Geschichten erzählen, mir ihre Geschichten anzuhören. Das ist für mich eine primäre Tätigkeit.

Und hinzu kommt noch die Russendisko?
Die Tanzwerkstatt? Das wird weniger, zum Glück. Disko ist anstrengend. Im Grunde ist Musik ein Kommunikationsmittel für Menschen, die nicht erzählen können. Warum geht man in eine Disko? Doch nicht, um Musik zu hören, das kann man besser zu Hause. Man geht, um jemanden kennenzulernen. Und warum dann in die Disko? Es ist laut, es ist schlechtes Licht, es ist verraucht. Das sind Leute, die davor Angst haben, in normalem Licht jemandem etwas zu erzählen. Die das ausnutzen, dass in der Disko alles so schlecht und kompliziert ist. Aber es war ein großer Schritt, dass wir scheinbar so vielen Menschen geholfen haben, diese Kommunikationsprobleme zu lösen. Ich bekomme ständig Fotos von Kindern, die von Leuten entstanden sind, die sich bei uns kennengelernt haben.

Sie meinen also, der beste Weg, Schriftsteller zu werden, ist, dies gar nicht zu wollen, sondern einfach sein Thema zu finden, gute Texte zu produzieren und dann zu hoffen, dass man vom richtigen Agenten oder Verleger gefunden wird?
Das sind zwei Dinge, die man nicht miteinander verwechseln darf. Auf der einen Seite das Gebiet der Vergangenheit, auf der anderen das Prinzip „Fernsehserie“. Was will man mit der Schreiberei erreichen? Wenn man damit Geld verdienen und mit Verlegern in Kontakt treten will, ist das ein Verwaltungsweg, das hat mit Schreiben wenig zu tun. Oder will man, ich sag mal, im Auftrag Gottes die Wahrheit sehen? Die Tatsache, dass diese Wege sich manchmal kreuzen, schließt die Unterscheidung nicht aus. „Richtige“ Schriftsteller landen auch auf Bestsellerlisten und die „falschen“ werden nicht immer gedruckt. Früher dachte ich immer, auf Bestsellerlisten kann nie etwas Gutes stehen, das, was alle lesen, ist irgendein Schinken und die guten Bücher bekommt man von einem Freund. Stimmt nicht. Inzwischen weiß ich, alles mögliche kann auf Bestsellerliste stehen.

Wie sieht Ihr Alltag als Schriftsteller aus? Haben Sie feste Zeiten, schreiben Sie zwischendurch?
Ich leide unter Zeitmangel. Deswegen versuche ich jetzt, auf journalistische Arbeiten zu verzichten. Aber wenn man etwas aufzuschreiben hat, dann findet man immer Zeit, egal, auch wenn man zwanzig Kinder hat und keinen Schreibtisch. Dann schreibt man eben auf dem Knie oder auf dem Fensterbrett. Nein, die Frage ist, wie man zu dem eigenen Thema findet.

Wie oft überarbeiten Sie Ihre Texte?
Sehr oft. Das dauert am längsten. Das wundert mich manchmal selbst, weil ich die Geschichte klar im Kopf habe. Normalerweise setze ich mich nicht zum Schreiben, ehe ich diese Geschichte nicht ziemlich genau vor mir habe, schon mindestens drei mal davon geträumt habe und ganz genau weiß, wie man sie am besten erzählt. Trotzdem schreibe ich sie ziemlich schnell auf und sehe dann, dass vieles nicht stimmt. Ich redigiere sie. Dann redigiere ich sie noch mal, dann sehe ich deutlich, dass sie besser wird, und noch besser sein kann. Dann redigiere ich sie noch mal. Dann lasse ich sie ein paar Wochen liegen und schaue mir das noch mal an. Hinzu kommt bei mir, da ich in einer Fremdsprache schreibe, diese Unsicherheit. Obwohl schon so viele Jahre vergangen sind und ich alles Mögliche auf jede erdenkliche Art beschrieben habe – ich habe sehr viel geschrieben – spüre ich diese Unsicherheit noch sehr deutlich. Ich bin mir nie sicher, ob das jetzt tatsächlich die bessere Variante ist. Deshalb dauert es so lange.

Zeigen Sie die Texte Ihrer Frau?
Ich zeige sie ihr, wenn sie gerade nichts zu tun hat und ich der Meinung bin, mir ist etwas Außerordentliches gelungen und sie muss das unbedingt lesen. Früher oder später erfährt sie es sowieso, auf einer Lesung oder wo auch immer. Meistens lese ich ihr die Geschichte dann vor. Auf diesen ganzen Lesereisen, die ich seit zehn Jahren unternehme, lese ich nicht aus Büchern vor, das ist uninteressant, Bücher können alle selbst kaufen und lesen, sondern neue Geschichten. Darin liegt ein besonderer Reiz, weil man sofort eine Rückmeldung bekommt.

Sie haben Ihr Thema und Ihren Stil gefunden. Oder ist es so, dass der Verlag sagt: Das funktioniert, das wollen wir weiterhin haben?
Ich wollte mich von Anfang an nicht auf eine künstlich erzeugte Form einlassen, weil sie ihre eigenen Regeln diktiert oder auf den Inhalt Einfluss nimmt. Ich kann eine Form imitieren. Ich habe einen Roman imitiert mit „Militärmusik“, einen Reisebericht mit „Reise nach Trulala“, ein Kochbuch, einen Reiseführer oder Kurzgeschichten. Alles, was es gibt. Aber in Wirklichkeit ist es einfach eine Geschichte, die immer weitergeht. Eine Art Notizbuch.

Und der Verlag lässt Sie machen, wie Sie wollen, oder greift er ein?
Normalerweise reden wir mit dem Verlag nur über Geld. Sonst über nichts. Obwohl ich ein sehr nettes Lektorat habe. Sie redigieren mich, in erster Linie auf Grammatik, so, wie sie sich Grammatik vorstellen. Die ersten drei, vier Jahre hatten wir ständig Auseinandersetzungen und lange Kämpfe, ich habe immer alles zurückgenommen, was sie redigiert haben, aber inzwischen verstehen wir uns ganz gut.

Bekommen Sie die wirtschaftlichen Änderungen auf dem Buchmarkt mit?
Der Buchbetrieb ist eine absolut marktwirtschaftliche Angelegenheit. Die Branche verändert sich. Mit den Agenten zum Beispiel ist das so: Man kann es heutzutage nicht mehr als Beruf betrachten, Autoren zu suchen, zu finden, sie dem Verlag anzubieten. Der Verlag bietet dem Buchhändler den Autor an und der Buchhändler schaut, ob das nun jemand kauft oder nicht. Das ist aus marktwirtschaftlicher Sicht ein Wahnsinn. Genauso gut können Sie das Geld zum Fenster rauswerfen. Deswegen machen sie heute Folgendes: Ein Agent schreibt ein Projekt. Wie er sich ein Buch vorstellt, das Kasse macht. Zum Beispiel, „Die Geschichte der Unterwäsche, geschrieben von XY“. Damit geht er zum Verlag, der sagt aber: Ich hätte gern die Geschichte der Unterwäsche, nicht geschrieben von XY, sondern von einem schwarzen Popsänger. Dann sucht der Agent einen schwarzen Popsänger, hilft ihm beim Materialsammeln, und daraus entsteht dann ein künstlich gemachtes Buch. Die Agenten selbst erzählen, dass das in Richtung amerikanische Verhältnisse geht. In Amerika ist der Buchhändler der Chef der ganzen Sache. In Deutschland ist das noch immer der Verleger. In Amerika geht der Verleger zum Buchhändler und sagt: „Ich habe vor, ein Buch über den Irak-Krieg zu produzieren, nimmst du mir davon so und so viele tausend ab?“ Sagt der Buchhändler: „Nee, ich hab schon fünf Bücher über den Irak-Krieg, ich nehme das nicht.“ „Okay, dann mache ich das nicht“, sagt der Verleger. Der Buchhändler diktiert. Aber das ist der Markt und der Markt ist noch nicht das Leben. Es gibt auch viele Eingänge und Ausgänge und Unvorhergesehenes.

Wissen Sie, wie hoch Ihre Auflagen sind?
Ich habe Millionen verkauft. Ich weiß gar nicht, wie viel. Mein Verlag hat mir zum eine Millionsten Buch eine Annonce geschaltet, aber das war vor langer Zeit. Ich habe aufgehört, mich dafür zu interessieren.  Das meiste waren ja Taschenbücher, und das richtige Geld verdient ein Verlag mit Hardcover, weil sie teurer sind. Auch der Autor verdient mehr mit Hardcover, zehn bis zwölf Prozent pro Buch. Hunderttausend verkaufte Hardcover sind gut. Ein Taschenbuch kann man millionenfach verkaufen, niemand verdient so richtig daran, weil die so billig sind. Der Autor bekommt fünf Prozent vom Taschenbuch, das sind 30 Cent oder so. Wie viel muss man davon verkaufen, um davon leben zu können? Deshalb machen sie jetzt alle diese Hybridbücher, halb Taschenbuch, halb Hardcover, und verkaufen es für zwölf Euro.

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