„Früher habe ich vorm Präsens gewarnt“
Lisa Kuppler über unmittelbares Erzählen, neue Trends und verschenkte Chancen

Lisa Kuppler, das Präsens wird als Erzählzeit immer beliebter. Was bedeutet das für die Literatur?
Noch vor 20 Jahren hat man das Präsens in Genreliteratur, beispielsweise im Krimi oder der erotischen Literatur, so gut wie nie verwendet. Die Leser haben das Präsens als Erzählzeit abgelehnt. Das galt als etwas, das eher der belletristischen Literatur vorbehalten war, und da vor allem der experimentellen Texten. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Ich denke, Auslöser dafür war eine Art von Frauenliteratur, die ganz unmittelbar und direkt aus dem Leben der Protagonistin erzählt. Da wird dann das Präsens verwendet, oft verbunden mit einer Ich-Erzählerin. „50 Shades of Gray“ ist ein typisches Beispiel dafür. Früher war das Präsens ein Stilmittel. Jetzt gibt es Bücher, die durchgängig, vom ersten Wort an, im Präsens geschrieben sind.

Wie bewerten Sie diese Entwicklung?  
Als ich vor 15 Jahren anfing, Creative Writing zu unterrichten, habe ich immer vor solchen Texten gewarnt und gesagt: Die Leute wollen das nicht im Genre, schreibt einen Krimi nicht aus der Ich-Perspektive und im Präsens. Das sehe ich inzwischen ganz anders. Ich lasse eigentlich alles zu und schaue nur: Funktioniert es?  

Sie arbeiten ja als Krimi-Lektorin. Landen heute mehr Krimis im Präsens auf ihrem Schreibtisch?
Im Krimi zeigt sich das noch nicht so deutlich, sondern eher in der Frauenliteratur, die oft in einem flockig-leichten Ton geschrieben ist. Ich würde sogar sagen: So etwas im Präteritum zu schreiben, das würde heute nicht mehr gehen. Im Krimi wird nach meiner Einschätzung immer noch häufiger das Präteritum verwendet. Aber es gibt auch hier Texte, die im Präsens geschrieben sind. Und die werden genauso akzeptiert.  

Halten Sie es für gefährlich, Präsens durchgängig als erzählte Zeit zu verwenden?  
Ich wage so etwas nicht mehr zu sagen. Aber man kann das Präsens dann nicht mehr als Stilmittel einsetzen, das fällt weg. Stattdessen das Präteritum in einem Präsens-Text als Stilmittel zu verwenden, funktioniert nicht. Weil das Präteritum eine ganz klassische Erzählstimme ist. Da ist derzeit viel im Wandel. Keine Ahnung, was da noch passiert.

Wenn das Präsens zunehmend zur normalen Erzählzeit wird, was bedeutet das für Romane im Präteritum?  
Je mehr Bücher im Präsens veröffentlicht werden, desto mehr tritt dieser Gewöhnungseffekt ein. Leser, die mit diesen Büchern aufwachsen, empfinden Romane im Präteritum oft als verstaubt, altmodisch. Und das ist schade.

Kann das Präsens als Erzählzeit denn einlösen, was es verspricht?
Das Präsens impliziert: Wir sind ganz nahe dran, wir kriegen direkt mit, was passiert. Aber das Versprechen wird – zum Beispiel in „50 Shades of Gray“ – nicht eingelöst. Das ist so seicht, was da im Kopf der Protagonistin passiert. Die Stimme ist einfach zu schwach, um so ein Versprechen der Unmittelbarkeit zu halten. Und dann funktioniert das nicht mehr.

Das ganze Interview finden Sie auf literaturcafe.de

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