Er hat selbst zwei Töchter, kennt die Bedürfnisse der Kinder aber vor allem über die Bücher, die sie lesen. Seit über zwanzig Jahren ist Frank Griesheimer freier Kinder- und Jugendbuchlektor – unter anderem Außenlektor für Beltz & Gelberg – und eine Koryphäe auf seinem Gebiet.
Das Seminar „Kinder- und Jugendbuch. Markt, Chancen, Textarbeit“ baute Griesheimer vor allem anhand dreier Gegensatzpaare auf. Erstens: Orientierung versus Irritation. Kinder möchten ein Maximum an Orientierung, sowohl in der Handlung als auch in der Sprache. Je jünger die Leser sind, umso größer muss die Orientierung sein, denn Kinder beginnen gerade, die Welt zu verstehen, sich in ihr zurechtzufinden. So gehört, laut Griesheimer, zu den No-Gos auch Ironie: Kinder bis zu einem bestimmten Alter verstehen keine Ironie. Griesheimer: „Da kommt ein ironischer Autor und mischt die Welt, die sie gerade kennenlernen, wieder auf. Das geht nicht.“
Das zweite Gegensatzpaar benannte Griesheimer mit Identifikation vs. Distanz: Kinder wollen ein Maximum an Identifikation, während der erwachsene Leser eine Menge (intellektuelle) Distanz aushält. Das heißt, das Personal an Figuren sollte ebenso überschaubar sein, wie die Erzählperspektive. Und als drittes – eigentlich ein Spezialfall des ersten – Tradition vs. Innovation. Wer kennt das nicht: Unendlich oft kann man als Vater oder Mutter die gleiche Geschichte vorlesen oder erzählen. Kinder wollen, was sie kennen, wieder haben, weil sie stolz darauf sind, dass sie es schon kennen. „Kinder sind Spießer“, so Griesheimer schmunzelnd, „doch meistens sind die Eltern noch spießiger.“
In diesen drei Maximen für das Kinderbuch steckt vielleicht auch das Geheimnis der derzeitigen Popularität des Kinderbuches, das sich in immer mehr Formen als All-Age-Buch den Erwachsenenmarkt erobert. Es ist eine Form von Regression, vielleicht auch eine rote Karte für überbordenden Intellektualismus und Komplexität. Während das Storydesign im Erwachsenenbuch immer noch verpönt ist, ist es bei den Kindern und Jugendlichen völlig legitim, ja ein Muss.

Ein weiterer Begriff, den Griesheimer geprägt hat: Signifikanz. Der Leser misst jedem Detail auf den ersten Seiten eines Buches eine Bedeutung zu. Dadurch, dass der Autor jedes Ereignis, jedes Wort auswählt, hat alles eine Bedeutung auf die Handlung hin. Der Leser „wittert“ das Thema von Beginn an. „Wenn ich das Buch betrete, ist alles signifikant.“ Führt der Autor den Leser nun auf eine falsche Fährte, indem er anfangs etwa nicht die Hauptfigur einführt, so entsteht Pseudosignifikanz. Daher einer der vielen Ratschläge während des Seminars: „Ein Kinder und Jugendbuch sollte auf der ersten Seite seine gesamte Thematik ‚in nuce’ enthalten.“ Am Anfang eines Buches sollten alle W-Fragen geklärt sein. Stichwort Orientierung: Wer ist die Hauptfigur, was tut sie wann, warum und wo usw.

Noch einige Worte zum Exposé: Dies stellt in der Kinder und Jugendliteratur weniger einen Werbetext dar, sondern ist in der Tat eine Inhaltsangabe auf etwa drei Seiten. Ein Personenverzeichnis, ein Abschnitt zum persönlichen Bezug zum Thema sowie eine Einordnung des eigenen Textes in das Konkurrenzumfeld zeugen von der Professionalität des Autors. Dazu gehört auch eine gewisse Bereitschaft, mit dem Verlag bei der Überarbeitung des Textes zu kooperieren, die man durchaus schon im Anschreiben signalisieren kann. Auch die Formalia sollte ein Autor beachten: Im grafischen Bereich Orientierung gewährleisten, das heißt, eine sehr konservative Formatierung bevorzugen, keine „Bleiwüste“ erzeugen, also spätestens nach zehn Zeilen einen Absatz einfügen, und nach jedem Sprecherwechsel sowieso. Eine Leerzeile wird hingegen vor allem bei Zeit-, Ort, oder Sprecherwechsel gesetzt. Höchste Priorität hat hier die Transparenz, das Aufrechterhalten der Illusion. „Wenn man anfängt, über den Text zu grübeln, ist man aus der Geschichte gefallen.“

Eine Tendenz, die sich schon seit längerem ankündigt, fasste Griesheimer in dem Satz zusammen: Jedes Genre wird neu geboren aus dem Geist der Fantasy. Das heißt zum Beispiel, historische Romane für Jugendliche sind out, es sei denn, sie enthalten Fantasy-Elemente. Science Fiction ist tot, es sei denn, es wird als „Urban Fantasy“ verkauft. Die Schubladen, gegen die sich die Autoren immer wehren, sind im Kinder- und Jugendbuchbereich besonders stark ausgeprägt. Um auf dem laufenden zu bleiben, empfiehlt Griesheimer, regelmäßig einschlägige Zeitschriften wie etwa „Eselsohr“ zu lesen, sodass man dicht dran ist an den Trends.

Das alles klinge ein wenig nach Dogmen, „hundertfünfzigprozentig“, relativierte Griesheimer seine Aussagen. Doch man spürt, es sind die in zwanzig Jahren Lektoratsarbeit gewonnenen Erfahrungen, die ihn zu einem der gefragtesten und besten Kinderbuchlektoren Deutschlands machen.

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