Sie sind Lektorin beim S. Fischer Verlag. Wie sieht ihr tägliches Lesepensum aus?
Das ist unterschiedlich, denn meine Arbeit besteht natürlich auch in der Auseinandersetzung mit bereits angenommen Texten, Lektorieren, Organisieren. Ich würde sagen, ich lese am Tag vielleicht zwei bis drei Stunden, aber das kann auch in der Freizeit sein.

Ist es denn wirklich so, dass Lektoren immer mehr Projektmanager werden oder ist das bei Fischer noch anders?
Ich glaube, nicht nur bei Fischer, sondern bei allen großen Literaturverlagen geht es in erster Linie um Literatur, es geht um die Auseinandersetzung mit den Texten und um die Betreuung der Autoren, das ist unser Kerngeschäft. Natürlich bin ich, in dem Moment, wo ich für einen Verlag arbeite, auch verantwortlich für die Produktseite des Buches, denn wenn wir die Bücher nicht an den Leser bringen, können wir auch unseren Verlag nicht weiter aufrecht erhalten. Das ist ein Aspekt, der war zu allen Zeiten da. Die Zusammenarbeit mit dem Marketing und dem Vertrieb ist daher ganz wichtig. Aber meine Kernaufgabe liegt in der Auseinandersetzung mit den Autoren und in ganz klassischer Textarbeit.

Wie sehen Sie die Themenentwicklung der letzten Jahre in der deutschsprachigen Literatur? Gibt es Moden, zeitlose Themen?
Was, glaube ich, zunehmend wichtiger wird, ist Literatur von Autoren mit Migrationshintergrund, von Autoren, die mit einem Bein in einer anderen Kultur stehen. Da sehe ich interessante Impulse für die deutschsprachige Literatur. Was häufig als Mode bezeichnet wird oder als zeitgeschichtlich-historischer Roman von der Kritik abgetan wird, empfinde ich als Notwendigkeit: Romane, die sich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigen. Junge Autoren der Generation zwischen 25 und 40 müssen noch mal das aussprechen, was lange Zeit im Schweigen gelegen hat. Das kann man als Tendenz bezeichnen oder als Mode, ich glaube, es ist notwendig. Wir brauchen Romane wie „Kaltenburg“ von Marcel Beyer oder „Die Mittagsfrau“ von Julia Franck.

Wird denn die Aufarbeitung der DDR-Geschichte in der Literatur jemals einen ähnlichen Stellenwert erreichen, wie die der NS-Vergangenheit?
Da versteige ich mich jetzt zu einer kühnen Behauptung, aber ich glaube ja. Es wird natürlich jeden Herbst wieder nach dem großen Wenderoman gesucht, ich denke, den kann es gar nicht geben. Aber wenn man sich die Entwicklung anschaut, gibt es Parallelen: Erst ist man mit Satire an die Ereignisse herangegangen, weil es zu nah war, dann gab es immer wieder Jahre des Schweigens, dann gab es die Chronisten, die Erinnerungsbücher. Es war eine lange Zeit der Diktatur, es sind viele schlimme Dinge passiert, es ist viel geschwiegen worden. Ich glaube, wo es so einen langen Zeitraum des Schweigens gegeben hat, wird erst die nachfolgende Generation sprechen können.

Wobei manchmal der Eindruck entsteht, dass die Aufarbeitung nur im Osten stattfindet. Für viele im Westen war die Vereinigung doch mehr oder weniger eine Nachricht im Fernsehen, wie viele andere auch. Deshalb hat die DDR-Zeit vielleicht doch nicht so einen starken Impetus, weil sie nur einen Teil von Deutschland, den kleineren, betraf. Wie wird das Thema beim Fischer Verlag wahrgenommen?
Das kann ich nur sehr schwer beurteilen. Ich arbeite in einem Verlag, der in Frankfurt am Main ansässig ist, der eine lange und schwierige Geschichte hat, der sich aber ab den 70er Jahren sehr vehement um Literatur aus der DDR bemüht hat, um nur mal Wolfgang Hilbig zu nennen, Monika Maron, Reiner Kunze. Deswegen ist das in unseren Lektoratsrunden ein wichtiges Thema. Es wird auch im Herbst ein Band mit Lyrik der DDR erscheinen. Auch hier muss noch ein wenig Zeit vergehen, eh klar wird, dass das eine gemeinsame Geschichte ist, so wie die Geschichte der Bundesrepublik auch interessant oder wichtig ist für Bürger der ehemaligen DDR. Das war ein geteiltes Land mit einer gemeinsamen Geschichte. Vielleicht ist das Wunschdenken, dass das Interesse größer wird. Wenn man sich auf der anderen Seite den „Turm“ von Uwe Tellkamp anschaut – das ist ja schon ein sehr spezielles Buch, das heute fast als Volksbuch bezeichnet wird. Und das lässt mich hoffen, dass das Thema für alle von Interesse ist.

Wenn wir schon bei Julia Franck und Uwe Tellkamp sind: Stichwort Buchpreis. Fischer, Hanser, Suhrkamp wechseln sich in schöner Regelmäßigkeit ab. Fluch und Segen des Buchpreises?
Man kann sehr viel dagegen und sehr viel dafür sagen. Was mich freut und weshalb ich vehement für diesen Preis bin: dass es damit gelungen ist, binnen kürzester Zeit jedes Jahr einen deutschsprachigen Autor in Regionen zu heben – was die Verkäufe anbelangt – die vor sieben oder acht Jahren nur schwer erreichbar waren. Ich glaube, dass damit Interesse an deutschsprachiger Literatur geweckt wird, dass viele Menschen entdecken, dass es neben den großen amerikanischen Erzählern auch große deutschsprachige Erzähler gibt. Im vergangen Jahr war kein Buch von Fischer auf einer dieser Listen, wir hatten trotzdem Erfolge, aber natürlich war das eine Enttäuschung. Trotzdem freut es einen, wie sehr diese Bücher im Gespräch sind.

Führt das nicht zu einem Verschwinden des Mittelbaus, zu einer Zweiteilung des Marktes. Hier die Leuchttürme, dort die Kleinteiligkeit?
Ja, vielleicht. Auf der anderen Seite bemüht sich die Jury, auch die Shortlist zu präsentieren. Selbst die Longlist-Kandidaten werden besprochen. Was ich auch jedes Jahr wieder interessant finde: Es gibt immer fünf, sechs Bücher, die auf keiner dieser Listen auftauchen und die genau deswegen relativ groß besprochen werden, eine Anti-Liste, oftmals Ausdruck der Empörung. Da entsteht ein Streit, da gibt es Emotionen und das ist doch sehr lebendig. Gut, man kann auch vieles dagegen sagen, aber für mich überwiegen die Vorteile.

Wie durchlässig sind die Grenzen für Autoren heute in Verlage hinein. Ist es schwieriger, leichter in Verlage hineinzukommen?
Ich überblicke ja erst eine Zeitspanne von knapp zehn Jahren. Da sehe ich keine große Veränderung. Es gibt in Deutschland ein wunderbares Netz von Schreibwerkstätten, Stipendien, Lesewettbewerben, die die Möglichkeit geben, sich zu testen, sich vorzustellen und Kontakte zu knüpfen. Es gibt viele sehr gute Agenturen und wir Verlagslektoren sind alle sehr viel unterwegs. Wir gehen zu diesen Wettbewerben und informieren uns über die Schreibwerkstätten. Es gibt in Deutschland ein sehr engmaschiges Netz. Ich glaube, uns entkommt keiner. Gute Manuskripte finden zum Verlag.

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